Die kleine Meerjungfrau: Hintergrund & Vergleich
Hans Christian Andersen zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, was sicherlich auch dem Erfolg seines zeitgenössischen Kunstmärchens „Die Kleine Meerjungfrau“ (oder: Seejungfrau) zu verdanken ist. In dem 1837 erschienen Text erzählt der dänische Autor die unerfüllte Liebe einer jungen Meerjungfrau zu einem Prinzen, den sie vor dem Ertrinken rettet und für ihn das Leben im Wasser aufgibt, sich jedoch mit einer anderen Frau vermählt.Das moderne Märchen fand Eingang in die moderne Popkultur und wurde in verschiedenen Variationen adaptiert und verfilmt, in der bekanntesten Version von Disney 1989 als „Arielle die Meerjungfrau“. Nachfolgend sollen der Hintergrund des Märchens, Interpretationen und Rezeptionen sowie ein Vergleich mit der Disney-Adaption genauer beleuchtet werden.
Bild: John William Waterhouse, Die Meerjungfrau
Hintergrund der kleinen Meerjungfrau
Andersen war zeitlebens Autor zahlreicher Kunstmärchen, von denen die bekanntesten wie „Des Königs neue Kleider“, „Die Prinzessin auf der Erbse“, „das hässliche Entlein“ oder auch „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ sind. Eine der erfolgreichsten Kunstmärchen stellt jedoch die Geschichte der kleinen Meerjungfrau dar.
Das Kunstmärchen beginnt mit der Beschreibung ihres Lebens unter Wasser als jüngste von sechs Töchtern des Meerkönigs, die das Leben an Lande nur aus Erzählungen der Großmutter kennen. Im jugendlichen Alter dürfen die Töchter sich am Strand sonnen und so der Menschenwelt näher kommen, was die Meerjungfrau dazu veranlasst, einige Menschen auf einem Schiff zu beobachten. Während sie sich in einen Prinzen an Bord verliebt, weiß dieser nichts von ihrer Existenz, was sich auch nicht ändert, als sie ihn nach einem Schiffsbruch vor dem Ertrinken rettet.
Bild: Vilhelm Pedersen, Illustration der kleinen Meerjungfrau für H. C. Andersens Kunstmärchen
Durch ihre Sehnsucht wird sie dazu veranlasst, sich an eine Meereshexe zu wenden, die sie im Tausch gegen ihre Stimme und ihre Flosse in eine menschliche Frau verwandelt. Da der Prinz ihre Liebe nicht erwidert, ist sie dazu verdammt, im Meer zu sterben und sich in Schaum zu verwandeln. Als sie sich ins Meer begibt, wird sie jedoch als Luftgeist erlöst und erhält so schließlich, nach 300 Jahren als Luftgeist, ihre unsterbliche Seele.
Die Inspiration zu dem Werk bezog H.C. Andersen aus der Sage der Undine. Bei dieser Figur handelt es sich um einen jungfräulichen Wassergeist, der als seelenloses Wesen im Wasser von Seen oder Wasserfällen umherwandelt. Sie kann nur durch die Vermählung mit einem Mann Erlösung finden, den sie durch ihren bezaubernden Gesang anzulocken versucht. Sie taucht in der Staufenberg-Sage von 1320 auf und ist vermutlich von Nymphen aus der griechischen Mythologie wie den Najaden beeinflusst worden.
Bild: Buchcover Undine aus dem Project Gutenberg
Diese halbgöttliche Wesen werden häufig als fröhlich und kokett dargestellt und beschützen Schiffsbrüchige und die Natur. Daneben zeichnen sie sich jedoch auch durch eifersüchtiges Verhalten aus. In späteren Jahrzehnten wurde besagte Gestalt wieder aufgegriffen und erfuhr eine Neuinterpretation durch Friedrich de la Motte Fouqué.
In dem 1811 erschienen Kunstmärchen vermählt sich der Ritter Huldbrand mit einer jungen Frau namens Undine, die sich ihm nach der Hochzeit als Elementargeist und Tochter eines Wasserfürsten im Meer offenbart, der durch die Hochzeit eine Seele erhalten habe. Nachdem sich Huldbrand mit einer Freundin von ihr vermählt und sich im Streit von Undine abwendet, ist sie dazu gezwungen, ins Wasserreich zurückzukehren.
Da Untreue im Wasserreich mit dem Tod bestraft wird, muss Huldbrand trotz der Warnungen seiner ehemaligen Gattin schließlich sterben und sie verwandelt sich in einen Bach. Es ist naheliegend, dass Andersen aus der Sage und dem späteren Kunstmärchen einige Inspiration für seine Geschichte der Meerjungfrau zog.
Interpretationen des Kunstmärchens
Die kleine Meerjungfrau zählt zu den bekanntesten Märchen aus Dänemark und erfuhr so auch eine Vielzahl an Rezeptionen und Interpretationen. Ein aus der Psychoanalyse stammender Interpretationsstrang betont die Symbolik der Wandlung und Individuation der Figur, bei der es um Selbstverwirklichung und das Bringen von Opfern geht. Brigitte Engel sieht in der Figur der Meerjungfrau einen Ausdruck der Suche nach sich Selbst, die über die Elemente des Wassers, der Erde, in die Luft und ins Jenseits erfolgt.
Die kleine Meerjungfrau muss in dieser Interpretation beim Finden ihrer Seele ein Opfer, die Verwandlung, bringen. Die Liebe zum Prinzen ist aus Engels Sicht ein Motor der Selbstverwirklichung der Seejungfrau, da diese ja nur dann eine Seele finden kann, wenn der Prinz ihre Liebe erwidert.
Durch die Aufgabe ihres Daseins im Meer betritt sie eine neue Stufe der Entwicklung, die mit dem Loslassen des Prinzen und der Belohnung der Rückkehr als Luftgeist endet. In diesem Sinne ist die Meerjungfrau eine Darstellung der Selbstverwirklichung eines Menschen, die im Ankommen des Jenseits und dem Gewinn einer eigenen Seele als höchstem Ziel endet.
In einer anderen Interpretation von Eugen Drewermann wird die Meerjungfrau ebenso vor das Problem der unerfüllten Liebe gestellt, in dem sich verschiedene Denkfiguren aus der Psychologie Sigmund Freuds wie ödipale Konflikte wiederfinden.
Bei anderen Interpretationen finden sich zumeist autobiografische Deutungen des dänischen Märchens. H. C. Andersen war Zeit seines Lebens nie verheiratet, es gibt jedoch Spekulationen darüber, dass er eine geheime Liebe zu seinem langjährigen Freund Edvard Collin pflegte. Edvard Collin war der Sohn der Gasteltern von Andersen, der insgeheim Gefühle für ihn zeigte, die jedoch von Collin nicht erwidert wurden. Es ist zudem bekannt, dass die Geschichte zur Zeit der Hochzeit Collins entstand und dieser von Andersen auch ein Manuskript zum Lesen erhielt.
Einige Interpretatoren wie Hans Mayer oder Rictor Norton verweisen deshalb auf die vermutete Homosexualität Andersens und sehen in der Geschichte Parallelen zu seiner eigenen Biografie, in der Andersens mögliche Liebe zu Männern aufgrund gesellschaftlicher Konditionen verunmöglicht wurde. So wie Andersens Wunsch nach Liebe nicht in Erfüllung ging, musste auch die Erfüllung der Liebe der Seejungfrau zu ihrem Prinzen aufgrund ihrer fehlenden Sprechfähigkeiten scheitern musste.
Arielle, die Meerjungfrau: Adaption von Disney und Unterschiede zu Andersens Seejungfrau
Die Bronzestatue der kleinen Meerjungfrau an der Promenade ist heute eines der Wahrzeichen Kopenhagens und Magnet vieler Touristen. Dies liegt sicherlich auch an der hohen Bekanntheit, welche die Figur in der modernen Popkultur durch eine hohe Resonanz erfahren hat. Höhepunkt der Beliebtheit war sicherlich die Umsetzung des erfolgreichen Disney-Films „Arielle, die Meerjungfrau“.
Der Zeichentrickfilm von John Musker und Ron Clements erzählt in 89 Minuten die Geschichte von Arielle, in der viele Parallelen zum Kunstmärchen aus Dänemark, jedoch auch einige bedeutende Unterschiede bestehen.
In der Zeichentrick-Verfilmung lebt Arielle als Tochter des Meereskönigs Triton mit ihren Freunden am Meeresgrund und träumt zum Missfallen ihres Vaters davon, sich eines Tages in einen Menschen zu verwandeln. Als sie gemeinsam mit ihrem Fischfreund Fabius einen Prinzen an Bord eines Schiffs beobachtet und diesen vor dem Ertrinken rettet, verliebt sie sich in ihn, während dieser nichts von ihrer Existenz erfährt. Um ihren Traum von der Menschwerdung zu erfüllen, geht Arielle einen Handel mit der bösen Meereshexe Ursula ein, die ihr drei Tage an Land gewährt, in denen sie Erik küssen muss.
Wie auch in der Geschichte von Andersen verliert Arielle ihre Stimme an Land im Tausch gegen den Zauber der Hexe. Allerdings wird in der Originalgeschichte die Zunge der Meerjungfrau abgeschnitten und mit dem Blut der Meerjungfrau vermischt, während die Disney-Version hierbei „entschärft“ wurde.
Im Unterschied zum Kunstmärchen beteiligt sich die Hexe auch an einer List und verwandelt sich in eine schöne Frau namens Vanessa, die der Prinz heiraten soll. Diese List wird durch die Mithilfe von tierischen Helfern jedoch aufgedeckt und Ursula als Betrügerin enttarnt.
In Andersens Version ist es jedoch die Tochter des benachbarten Königreichs, die sich schließlich mit dem Prinzen vermählt. Der weitere Verlauf der Geschichte unterscheidet sich noch stärker von dem Märchen, indem Arielle die Meerjungfrau wieder ihre Stimme erhält und den Prinzen küssen will, jedoch wieder ins Meer zurückkehren muss. Dort muss sie sich in einem Kampf mit Erik gegen die böse Hexe beweisen, die sich selbst zur Herrscherin der Meere macht. Schließlich kann sie vom heldenhaften Erik getötet werden und Triton übernimmt wieder den Dreizack der Meere.
Aus Liebe zu seiner Tochter gewährt er ihr schließlich ein Leben an Land mit ihrem Prinzen – anders als in der dänischen Geschichte, wo die Meerjungfrau den Rat von ihren Schwestern erhält, den Prinzen zu töten, sich aus Liebe für diesen aber dagegen entscheidet und ins Meer stürzt.
Obgleich es in beiden Fällen zu einem glücklichen Ende für die Figuren kommt, sind in der modernen Adaption von Disney also zahlreiche grausam wirkende Elemente des Märchens entfernt worden.
Rezeptionen des Märchens
So wie die Geschichte der Seejungfrau von alten Sagen über Nymphen und künstlerischen Adaptionen inspiriert war, hat Andersens Geschichte auch in der Literatur und Kunst eine Vielzahl von Werken beeinflusst.
Im Bereich der Literatur ist das Drama „Die versunkene Glocke“ von Gerhart Hauptmann eine der bekanntesten Rezeptionen des literarischen Stoffs, der einige Motive des Originals mit einer originären Geschichte aufgreift.
Auch der irische Autor Oscar Wilde wurde zu seiner Erzählung einer unmöglichen Liebe zwischen einer Meerjungfrau und einem Menschen von Hans Christian Andersen inspiriert. In dieser Geschichte verliebt sich ein Fischer in eine Meerjungfrau und will mit ihr zusammenleben. Dies ist aufgrund der Seelenlosigkeit des Meeresvolks jedoch nur durch die Trennung von seiner eigenen Seele möglich ist, die der Fischer durch die Mithilfe einer Hexe durchführt. Für den Mann endet dieser Zauber jedoch tragisch, da seine Seele in der Welt keinen Frieden findet und er ohne diese schließlich verbittert und durch Untreue von der Meerjungfrau getrennt stirbt.
In der Musik wurde die Geschichte unter anderem von Eugen d’Albert vertont und von Germaine Tailleferre als Oper ersonnen.
Im Bereich des Films sind neben der Adaption von Disney auch die Filme von Zdeněk Liška 1976, der Anime-Film Ponyo – das große Abenteuer aus dem Jahr 2009 und die 2013 veröffentlichte Fernseh-Verfilmung vom die kleine Meerjungfrau Original zu nennen.
Literatur:
Engel, Brigitte: Wandlungssymbolik in Andersens Märchen „Die kleine
Meerjungfrau“ Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 37 (1988) 10, S. 374-378
Drewermann, Eugen: Liebe, Leiden und Unsterblichkeit : H. C. Andersens Märchen von der kleinen Meerjungfrau. Stuttgart: Herder, 2003.
Hans Mayer: Außenseiter. Suhrkamp-Verlag, 1981.
Tatar, Maria: The Annotated Classic Fairy Tales. New York: W. W. Norton, 2002.
Norton, Rictor (Ed.): A Fairy Tale : The Gay Love Letters of Hans Christian Andersen. Excerpts from My Dear Boy: Gay Love Letters through the Centuries (1998)
Heider, Heidi Anne: Mermaid and Other Water Spirit Tales From Around the World. CreateSpace Independent Publishing Platform; Annotated edition, June 17, 2011.
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