Die Königsklasse der Märchen: das Kunstmärchen

Kunstmärchen: Begriff, Entstehung, Beispiele
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Viele lieben sie, und schon von klein auf kommen wir mit ihnen in Berührung: die Märchen. Wer erinnert sich nicht daran wie die Eltern und Großeltern früher im dicken Märchenbuch blätterten und vorlasen. Es ging um Hexen und Feen, Könige und Helden, um fantastische Ereignisse und um Wunder. Und in der Regel ging das Märchen immer gut aus.

Doch neben aller Faszination für Märchenstoffe an sich gibt es auch unterschiedliche Kategorien in die sich Märchen eingliedern lassen. Denn Märchen ist nicht gleich Märchen. Neben den allbekannten Grimm'schen Märchen, die zur Gattung der Volksmärchen zählen, steht die Gattung der Kunstmärchen. Beide heben sich in einigen wesentlichen Punkten stark voneinander ab. In welchen und wie genau kann hier nachgelesen werden.

Kunstmärchen oder Volksmärchen – wo ist der Unterschied?

Der wesentliche Unterschied zu allen anderen Märchengattungen ist, dass diese einen eindeutig zuordenbaren Autoren haben. Da es sich also nicht um die reine Verschriftlichung, oder Neuausprägung, althergebrachter und ursprünglich nur mündlich übermittelter Sagenstoffe handelt, werden sie auch durch den Begriff  „das Moderne Märchen“ benannt.

Denn der Verfasser reproduziert nicht ausschließlich Geschichten, die von anderen erzählt wurden, sondern verfolgt mit dem Inhalt seines Märchens ein gewisses Ziel und schnitzt sich seinen Stoff sozusagen zurecht. „Autoren“ etwa, wie die Gebrüder Grimm, haben ihren Märchenschatz nicht selbst verfasst, sondern lediglich überlieferte Märchenstoffe verschriftlicht.

Welche Gattungsmerkmale gibt es?

Doch damit nicht genug, denn Kunstmärchen haben Merkmale, die über die Zuordnung der Autorenschaft hinaus gehen. Sie sind umfangreicher und sehr viel komplexer angelegt als Volksmärchen. Viele erreichen Romanlänge und weisen in ihrer Struktur einen eindeutigen literarischen Anspruch auf. Dieser schlägt sich darin nieder, dass der Aufbau vielfach sehr verschachtelt ist, Binnen- und Rahmenhandlung beinhaltet.

Es wird also nicht, wie bei anderen Märchenformen, nur ein knapper Handlungsstrang verfolgt, der exemplarisch eine gewisse Lehre transportieren soll. Vielmehr gibt es häufig mehrere Handlungsstränge, die miteinander verbunden sind, und auf ein gemeinsames Ende zustreben. Auch die dargestellten Figuren stehen miteinander in Beziehung.

Kunstmärchen können Beispiele anderer Märchenformen aufgreifen, bauen sie aber aus. Die typische Schwarz-Weiß-Struktur, die in Märchen oftmals vorherrschend ist, wird hier gebrochen. Die Erzählungen stellen weit mehr als ein Schema Gut gegen Böse dar. Die Inhalte, und damit auch die Figurenzeichnungen, sind als vielschichtig zu bezeichnen.

Die Protagonisten sind eher literarisch angelegt und ihre Charaktere weisen auch Grautöne auf. Sie sind also wie realistische Menschen angelegt und weisen somit erweiterte Figurenmerkmale auf, als beispielsweise die aus anderen Märchen bekannte gute Fee oder der böse Wolf. Das Personal weicht mit Personen, wie sie im realen Leben überall auftreten können, somit von dem der Volksmärchen ab, in denen sich tatsächlich hauptsächlich Sagengestalten und phantastisches Personal tummeln.

Es ist nicht untypisch, dass die Protagonisten sich im Verlauf der Geschichte entwickeln und eine moralische Wandlung, zum Beispiel vom bösen Charakter zum guten Charakter durchmachen. Märchen enden im Allgemeinen gut. Allerdings gibt es innerhalb der Kunstmärchen Beispiele, an denen am Ende nicht das Gute siegt. Oft ist die Handlung durch einen starken inneren Konflikt des Protagonisten geprägt, was dieser Gattung einen psychologischen Aspekt verleiht.

Die vorgefundene Alltagswelt befriedigt den Helden in einer gewissen Art und Weise nicht. Er hängt idealtypischen Vorstellungen, wie die Dinge auszusehen hätten, nach und kann die Diskrepanz zwischen Realität und unerfüllten Wünschen nur sehr schlecht, oder auch gar nicht, aushalten. Derartige Kunstmärchen von Autoren wie E.T.A. Hoffmann mit „Der goldene Topf“, Adalbert von Chamisso mit „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ oder Wilhelm Hauff mit „Das kalte Herz“ stehen hierfür exemplarisch.

Bertall_-_Das_kalte_HerzDas kalte Herz von Wilhelm Hauff: Wikicommons, Bertall

Adressaten sind jeweils Erwachsene, was sich durch die Komplexität der Stoffe erklären lässt, die von Kindern noch kaum erfasst werden können. Auch ist die Handlung für Kinder oft zu gruselig. Dazu ist die Thematik nicht selten dem politischen Bereich zuzuordnen oder befasst sich mit gesellschaftlichen Missständen.

Dadurch wird die Umgebung, in der die Handlung angesiedelt ist, oftmals klar benannt. Es gibt also konkrete Orts- und Zeitangaben, die bei anderen Märchenformen meist sehr vage ausfallen. Als sprachliche Mittel werden häufig Ironie und Satire verwandt

Die Entstehungsgeschichte der Gattung Kunstmärchen

Bereits seit der Antike gibt es Zeugnisse dieser Märchengattung. Über die Jahrhunderte hinweg entstanden Kunstmärchen in ganz Europa, vor allem aber in Frankreich und Italien. Im Rokoko entstanden in Frankreich Feengeschichten, die der Gattung zuzuordnen sind und die als Kunstmärchen von Autoren in Deutschland während der Zeit der Weimarer Klassik wieder aufgegriffen wurden.

Zum Beispiel Christoph Martin Wieland orientierte sich mit seiner Märchensammlung „Dschinnistan“ am Geister- und Feenstoff des französischen Rokoko. Auch der deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe beteiligte sich etwa mit „Die neue Melusine“. Das Märchen ist in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ eingebettet.

Höhepunkt der Kunstmärchen in der Romantik

Ihren Höhepunkt erfuhr diese Märchengattung zweifellos während der deutschen Romantik. Kaum einer der romantischen Autoren ließ diese Erzählform innerhalb des eigenen Schaffens aus. Das liegt daran, dass literarische Gattung und Textgattung ausgesprochen gut miteinander harmonieren. Reale Geschehnisse werden mit phantastischen Innenwelten der Protagonisten vermischt.

Die Autoren wie Clemens Brentano („Das Märchen von dem Myrtenfräulein“), E.T.A. Hoffmann (Der Sandmann“) oder Ludwig Tieck („Der blonde Eckbert“) bedienen sich an phantastischem Figurenpersonal wie Geistern oder Feen, über die sich ihre Inhalte gut transportieren lassen. Speziell Autoren der Untergattung Schwarze Romantik zeigten sich dieser Märchengattung ausgesprochen zugetan. Im Gegensatz zur Vernunft, die andere Autoren der Zeit propagieren, geben sich romantische Autoren mit diesem Erklärungsansatz für die Welt nicht zufrieden.

Ihrer Meinung nach gibt es unerklärliche Phänomene und Wunder, die das Handeln der Menschen beeinflussen. Exemplarisch zu nennen sind E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“, Ludwig Tiecks „Der Runenberg“ oder auch internationale Autoren, die heute als Autoren der Schauerliteratur bekannt sind. Zum Beispiel Mary Shelley mit „Frankenstein“ oder Edgar Allan Poe mit „Der Untergang des Hauses Usher“.

Von der Spätromantik bis zur Gegenwart

Kunstmärchen haben Merkmale, die auch während späterer Literaturepochen nützlich gewesen sind, um die gewünschten Inhalte, dem Zeitgeist angepasst, transportieren zu können. Der Spätromantiker Wilhelm Hauff etwa schuf Märchen, die eine Rahmenhandlung benötigten, um den Kern seiner Aussagen einbetten zu können. Beispiele sind „Kalif Storch“, „Zwerg Nase“ oder „Der kleine Muck“.

Der bekannteste dänische Märchendichter Hans Christian Andersen verfasste eine ganze Reihe an Märchen, die dieser Gattung angehören und heute zur Weltliteratur zählen. So zum Beispiel „Das hässliche Entlein“, „Des Kaisers neue Kleider“, „Die kleine Meerjungfrau“ oder „Die Prinzessin auf der Erbse“.

Im englischen Sprachraum wurde Oscar Wilde mit seinen Märchen „Der glückliche Prinz“ oder „Ein Granatapfelhaus“, die ebenso in dieser Reihe stehen, bekannt. Deutsche Autoren wie Gottfried Keller („Spiegel das Kätzchen“) und Theodor Storm („Die Regentrude“) führten die Tradition im deutschen Sprachraum weiter. Auch die Werke Franz Kafkas müssen hier genannt werden, ist zum Beispiel „Die Verwandlung“, auf Grund von Motiven und Personal, ein lupenreise Exempel dieser Märchengattung.

Wer Walter Moers liebt wird sicherlich längst erkannt haben, dass auch seine Werke wie „Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär“, „Ensel und Krete“, „Die Stadt der träumenden Bücher“, und all die anderen Romane seiner Zamonien-Reihe, der Gattung angehören. Überhaupt handelt es sich bei allen genannten Märchen um die Grundlage für oder Elemente der fantastischen Literatur, die heute vielfach unter dem Begriff Fantasy geführt wird.

Der Fantasy-Literatur gehört auch die Reihe „Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien an. Die Beliebtheit der Gattung über die Jahrtausende hinweg zeigt, dass sie literaturgeschichtlich immer relevant war und durch ihre Eigenheiten, den Einsatz von Parabeln, Zauberhaftem und Fantastischem, die Realität über Umschweife noch heute auf den Punkt bringt.

Die zeitlose Relevanz von Kunstmärchen in der modernen Gesellschaft

Kunstmärchen sind mehr als bloße Unterhaltung; sie sind Fenster zu den tiefsten moralischen und philosophischen Fragen der Menschheit. Diese Geschichten, geprägt von komplexen Charakteren und vielschichtigen Handlungssträngen, laden zum Nachdenken über universelle Themen wie Gerechtigkeit, Mut, Liebe und Selbstfindung ein. Sie bieten sowohl eine Flucht vor der Alltagsrealität als auch einen Spiegel, der die Leser dazu anregt, ihre eigenen Erfahrungen und Herausforderungen zu reflektieren. Durch die Erzählungen von Autoren wie Hans Christian Andersen oder Oscar Wilde wird deutlich, dass wahre Schönheit und Güte oft in den unscheinbarsten Gestalten zu finden sind, was uns lehrt, über den ersten Schein hinauszusehen. Diese Lektionen sind zeitlos und beweisen die anhaltende Relevanz von Kunstmärchen in unserer heutigen Gesellschaft.

Kunstmärchen als Spiegel der Autorenseele

Die Geschichten, die Autoren wählen, und die Charaktere, die sie erschaffen, sind oft tief verwurzelt in ihren persönlichen Erfahrungen und dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit. Kunstmärchen dienen als kreative Ventile, durch die Autoren ihre tiefsten Gedanken, Ängste und Hoffnungen ausdrücken können. Die Biografien von Andersen und Hoffmann, zum Beispiel, offenbaren, wie persönliche Kämpfe und gesellschaftliche Beobachtungen ihre märchenhaften Erzählungen beeinflussten. Dies macht jedes Kunstmärchen zu einem einzigartigen Blick in die Seele seines Verfassers, der Leser auf eine emotionale und gedankliche Reise mitnimmt.

Die Rolle der Natur und Umwelt in Kunstmärchen

In Kunstmärchen wird die Natur oft nicht nur als Kulisse, sondern als lebende, atmende Präsenz dargestellt, die die Fähigkeit hat zu heilen, zu inspirieren und manchmal auch zu zerstören. Diese Geschichten erinnern uns an die Bedeutung der Natur in unserem eigenen Leben und die Notwendigkeit, unsere Umwelt zu schätzen und zu schützen. Durch die magische Linse der Kunstmärchen können wir die Wunder der Natur neu entdecken und lernen, unsere eigene Beziehung zur Welt um uns herum zu überdenken.

Kunstmärchen und die Erkundung des Unbekannten

Das Unbekannte zu erforschen und sich unseren tiefsten Ängsten zu stellen, ist ein wiederkehrendes Thema in Kunstmärchen. Diese Geschichten ermutigen uns, über unsere Grenzen hinauszugehen und die Wunder jenseits unserer eigenen Welt zu entdecken. Sie zeigen, dass wahres Wachstum und Erkenntnis oft durch Mut, Neugier und die Bereitschaft, das Unbekannte zu umarmen, erreicht werden können. Kunstmärchen dienen als Leuchttürme, die den Weg in neue und unbekannte Welten erhellen.

Kunstmärchen in der Bildung

Die Einbindung von Kunstmärchen in den Bildungsprozess kann Kinder und Erwachsene gleichermaßen in kritisches Denken, kreativen Ausdruck und ethische Überlegungen einführen. Diese Geschichten sind wertvolle Werkzeuge, um wichtige Lebensfähigkeiten wie Empathie, Problemlösung und die Fähigkeit, aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, zu entwickeln. Durch Kunstmärchen können Lernende die Welt um sie herum besser verstehen und die vielschichtigen moralischen Dilemmata, die das menschliche Leben prägen, navigieren.

Pädagogischer Einsatz von Kunstmärchen

Kunstmärchen bieten eine reiche Quelle für den Bildungskontext, um komplexe Themen wie Ethik, Geschichte und Literaturkritik zugänglich zu machen. Lehrkräfte und Eltern können diese Erzählungen nutzen, um kritisches Denken und moralische Reflexion bei Kindern und Jugendlichen zu fördern. Ein Ansatz könnte sein, die Charakterentwicklung in Kunstmärchen zu analysieren und zu diskutieren, wie Entscheidungen und Handlungen der Charaktere ethische Dilemmata aufwerfen und lösen.

Ein praktisches Beispiel für die Integration von Kunstmärchen in den Unterricht ist die Verwendung von Andersen’s „Das hässliche Entlein“ zur Erörterung von Themen wie Identität, Akzeptanz und Transformation. Schülerinnen und Schüler können ermutigt werden, Parallelen zwischen den Herausforderungen des Entleins und eigenen Lebenserfahrungen zu ziehen, wodurch die Geschichte persönliche Relevanz erhält und zum Nachdenken anregt.

Darüber hinaus können Lehrkräfte interaktive Projekte rund um Kunstmärchen gestalten, wie kreatives Schreiben, in dem Schüler eigene Adaptionen entwickeln, oder Kunstprojekte, die die visuelle Welt der Märchen erkunden. Diese Aktivitäten können die Kreativität fördern und gleichzeitig ein tiefes Verständnis für die narrativen Strukturen und Themen von Kunstmärchen vermitteln.

Für das häusliche Vorlesen empfiehlt es sich, eine Auswahl an Kunstmärchen bereitzuhalten, die altersgerechte Themen behandeln und gleichzeitig Raum für Gespräche und Fragen bieten. Dies stärkt die Bindung zwischen Eltern und Kindern und fördert die Entwicklung von Empathie und moralischem Bewusstsein.

Kunstmärchen sind somit nicht nur faszinierende Geschichten aus vergangenen Zeiten, sondern bieten wertvolle Lehrmittel für die heutige Bildung, die dazu beitragen können, junge Menschen auf das Leben in einer komplexen und sich ständig wandelnden Welt vorzubereiten.

Literaturempfehlungen zum Thema:

Diese Werke bieten vertiefte Einblicke in die Geschichte, Analyse und Bedeutung von Märchen und Kunstmärchen aus verschiedenen Perspektiven:

  1. Jackie Wullschlager, "Hans Christian Andersen: The Life of a Storyteller"
  2. Rüdiger Safranski, "E.T.A. Hoffmann: Das Leben eines skeptischen Phantasten"
  3. Anne E. Duggan und Donald Haase (Hrsg.), "Greenhill Encyclopedia of Fairy Tales"
  4. Marina Warner, "Once Upon a Time: A Short History of Fairy Tale"
  5. Bruno Bettelheim, "The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales"
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