Fabeln & Fabelwesen
Fabelhaftes Fabelwesen? Nein, jedenfalls nicht, was wir uns darunter vorstellen: Einhörner, Drachen, Phönixe, Greife und alle möglichen Kreaturen, die in der Welt des Magischen zuhause sind, bevölkern Märchen, Sagen, Mythen, nicht jedoch Fabeln.
Typische Merkmale einer Fabel
Die Protagonisten in Fabeln sind im Allgemeinen Tiere, meist zwei, manchmal auch mehrere. Es sind zwar solche, die wir als Arten aus dem alltäglichen Leben kennen, sie sprechen aber und legen menschliche Eigenschaften an den Tag. Auch Pflanzen und Naturphänomene stehen hin und wieder, eher selten, im Mittelpunkt. Es gibt sogar Fabeln, in denen Menschen die Hauptfiguren sind und solche, in denen Gegenstände eine tragende Rolle spielen.
[Was ist eine Fabel?]
Eine Fabel ist eine kurze Geschichte mit einer einleuchtenden Moral am Ende. Sie ist eine knappe Erzählung, deren Intention darin besteht, eine Lehre zu vermitteln. Die Einheit von Zeit, Ort, Handlung ist charakteristisch. Das war, gewissermaßen, die Fabel in einer Nussschale.
Fabeltiere und ihre Eigenschaften
Fabeltiere sind keine individuellen Charaktere, sondern verkörpern einen bestimmten Typus. Manche sind sprichwörtlich geworden. Bärenstark, störrisch wie ein Esel, bienenfleißig, diebisch wie eine Elster, Unschuldslamm. Stolz, herrisch und faul wie ein Löwe. So ist es in der europäischen Tradition. Der arrogant herumstolzierende Storch in der Fabel wird häufig Adebar genannt, der schlaue Fuchs heißt oft Reineke und manchmal Reinhart,
Der Kater in der Fabel ist eigensinnig und eitel. Die Landmaus und die Stadtmaus zeigen, dass eine bescheidene, ruhige Existenz zufriedener macht als ein üppiges Leben in Angst und Schrecken. Der Igel ist nicht der Schnellste, aber pfiffig. Gemeinsam mit der Igelin, die ihn tatkräftig unterstützt, kann er den etwas einfältigen und furchtsamen Hasen leicht übertölpeln. Auch Neid, Gier, Geiz und andere schlechte Eigenschaften werden von den Akteuren verkörpert.
Fabelwesen sind diese Tiere nur deshalb, weil sie sprechen können, weil sie allzu menschliche Schwächen (seltener: Stärken) und die entsprechenden Verhaltensweisen an den Tag legen. Meistens treten lediglich zwei Tiere auf, manchmal drei, die unterschiedliche Positionen einnehmen und die verschiedenen Aspekte eines Sachverhaltes beleuchten. Durch die Verfremdung der Erzählung mithilfe von Tiergestalten war es zum Beispiel möglich, vorsichtige Kritik an Herrschenden zu üben.
Form und Anliegen ändern sich nicht, wenn Pflanzen wie Schilfrohr und Eiche oder Naturgewalten wie Wind und Sonne die Figuren sind.
Sonstige Merkmale einer Fabel
Sie kann sowohl in Prosa als auch in Versform abgefasst sein. Weiter unterliegt diese literarische Gattung inhaltlich wie formal strengen Regeln:
Ort und Zeit in Fabeln
Es bleibt unerwähnt, wo und wann sich das Geschehen abspielt. Das ist einleuchtend, denn eine Fabel benötigt in ihrer Universalität und Allgemeingültigkeit keinen lokalen oder temporalen Rahmen. Sie ist kurz und bündig, denn Nebenstränge der Handlung und ausführliche Schilderungen entfallen.
Sie steht im Präteritum, dem Tempus, das üblicherweise die Erzählzeit in der Literatur ist.
Aufbau einer Fabel
Eines ihrer Kennzeichen ist eine klare Dreigliederung. Einleitung, Hauptteil und Schluss haben feste Funktionen.
Zuerst wird die Ausgangssituation umrissen.
Als Zweites folgt der Konflikt. Das ist sehr oft ein Streitgespräch, eine Meinungsverschiedenheit oder ein Wettstreit. Einander entgegengesetzte und miteinander unvereinbare Ansichten und Standpunkte werden mit Worten oder Taten ausgefochten.
Der dritte und letzte Teil ist der Lösung gewidmet, der Einsicht, die gewonnen wurde, der Moral der Geschichte. Viele Fabeln enden mit einem Epimythion, einem expliziten Lehrsatz, der klar und unmissverständlich ausdrückt, was ihre Botschaft ist. Sie dienen dazu, eine Erkenntnis, eine Weisheit auf einfache Art zu verdeutlichen.
Das macht Fabeln auch für Kinder geeignet. Anamythion oder Promythion, ein vorangestellter Lehrsatz, kommt vor, wenn auch selten. Bei einigen Fabeln wird gänzlich auf beides verzichtet, entweder, weil sich die Kernaussage von selbst versteht oder weil die Lesenden sich eigene Gedanken machen sollen.
Kurze Historie
Der Begriff Fabel kommt vom lateinischen Wort „fabula“, was mit „Geschichte, Erzählung“ übersetzt werden kann.
Die Wurzeln liegen in der Antike, im griechisch-römischen Kulturkreis. Der Rabe und der Fuchs stammt ursprünglich von Äsop, der um 600 v. Chr. in Griechenland lebte, auf der Insel Samos. Der Fuchs trickst den Raben aus, indem er ihm verlogen und betrügerisch schmeichelt.
Jean de La Fontaine fasste diese Fabel und auch weitere im 17. Jahrhundert in Versform. Im Barock, also vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, erfreute sich diese Literaturgattung sonst keiner großen Beliebtheit: Sie entsprach in ihrer Schlichtheit nicht dem Zeitgeschmack, anders als in der Epoche der Aufklärung. Gotthold Ephraim Lessing dichtete im 18. Jahrhundert die Fabel nach, allerdings mit einem neuen Schluss und einer sehr abweichenden Moral. Am Ende ist der verschlagene Fuchs der Verlierer und nicht der überlistete Rabe.
Mit der Fabel verwandt ist Reineke Fuchs. Im deutschsprachigen Raum sind seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Prosafassung von Johann Christoph Gottsched und das gleichnamige Versepos von Johann Wolfgang von Goethe bekannt. Beide stammen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und machen die Aristokratie lächerlich.
In der Tradition der Fabel steht auch die 1945 erschienene Dystopie „Animal Farm“ (Farm der Tiere) von George Orwell. Die Tiere proben den Aufstand gegen ihren Unterdrücker, den Bauern, um sich dann in einer noch schlimmeren Diktatur der Schweine wiederzufinden.
Berühmte und bekannte Beispiele
„Der Fuchs und die Trauben“ von Äsop, in lateinischen Versen nachgedichtet von Phaedrus, spöttelt darüber, wie wir uns etwas ausreden, das wir sowieso nicht erreichen können. „Das Lamm und der Wolf“, aus denselben Federn stammend, bestätigt die düstere Ansicht, dass der Stärkere immer eine Begründung für seine Ungerechtigkeit findet.
Andere prominente Fabeltiere sind „Die Ameise und die Heuschrecke“. Äsop hat die Fabel geschrieben, von Jean de La Fontaine gibt es eine Adaption. Die Grille und die Ameise belehren uns über die Notwendigkeit der Vorsorge für schlechte Zeiten.
Als Pflanzenfabel sei „Le Chêne et le Roseau“ (Eiche und Schilfrohr) genannt. Sie streiten sich, wer von ihnen der Widerstandsfähigere sei. Die starke, aber starre Eiche wird vom Sturm entwurzelt, das flexible Schilfrohr beugt sich und richtet sich unbeschadet wieder auf, sobald das Wetter sich beruhigt hat.
Für Naturfabeln beispielhaft ist „Die Sonne und der Wind“, ebenfalls von Äsop, übersetzt und nachgedichtet in Deutschland, Frankreich und England. Auch hier messen die beiden Wetterphänomene ihre Kräfte. Die Sonne gewinnt mit Milde und Wärme.
In der Fabel „Der Bauer und seine Söhne“ erzählt derselbe griechische Dichter von Menschen. Ein Vater führt hier seinen konfliktfreudigen Kindern vor Augen, dass es sich in Eintracht besser leben lässt als im Zwist.
Fabeln für Kinder
Sie sind wegen ihrer Kürze, ihrer leichten Verständlichkeit und ihrer erzieherischen Absicht sehr gut für Kinder geeignet. Wieder kommen wir an Äsop nicht vorbei. Die Fabel „Der Skorpion und der Frosch“ lehrt uns, dass niemand seine Natur verleugnen kann. Sie ist eine Warnung, mahnt zur Vorsicht. „Der Löwe und die Maus“ bringen Kindern und Erwachsenen bei, dass wir niemanden gering schätzen dürfen. Auch ein kleines Geschöpf kann uns eines Tages helfen, vor allem, wenn wir es gut behandelt haben.
„Der Hase und die Schildkröte“ zeigen auf, dass Beharrlichkeit zum Ziel führt und Zähigkeit mehr Erfolg verspricht als Schnelligkeit.
Fabeln außereuropäischer Kulturen
Schon Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. entstanden Fabeln im Nahen und Mittleren Osten, zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert n. Chr. in Indien. Luqman hat im Spätmittelalter Äsopsche Fabeln ins Arabische übertragen.
Diese Literaturgattung gibt es seit Jahrtausenden, in Europa seit der Antike, daran angelehnte Werke bis in die Moderne. Der Aufbau einer Fabel, ihre Regeln und ihre Botschaft sind leicht erfassbar und sehr präzise. Ihre Absicht ist es, zu unterweisen, eine Wahrheit zu verdeutlichen. Die Handelnden sind zumeist (aber nicht immer!) Tiere, die wie Menschen mit all ihren Schwächen empfinden, agieren und reagieren.